26

Am nächsten Morgen war Clarissa gerade dabei, die Betten der abgereisten Gäste abzuziehen, als Mrs Buchanan von der Bank zurückkam und sagte: »Ich hab das Gefühl, heute passiert irgendwas. Frank Reid ist in der Stadt, und ich hab auch einige andere Männer des Komitees gesehen. Sieht ganz so aus, als würden sie heute gegen Soapy Smith demonstrieren. Vor der Bank stand ein amerikanischer Goldsucher, der behauptete, in Tombstone wäre auch so ’ne komische Stimmung gewesen, bevor es zu der Schießerei im OK-Corral kam. Der berühmte Kampf zwischen den Earps und den Clantons …«

»Ich weiß«, erwiderte Clarissa, »in einem der letzten Buffalo-Bill-Magazine war eine Geschichte über den Gunfight. Die Earps und Doc Holliday traten auf einem Wagenabstellplatz gegen die Viehdiebe an. Bisher dachte ich immer, ein Schreiberling hätte sich die Story aus den Fingern gesogen.«

Die Wirtin schüttelte den Kopf. »Nee, den Kampf hat’s wirklich gegeben. Sogar bei uns stand was in der Zeitung darüber. Keine Ahnung, ob sich wirklich alles so zugetragen hat, aber es muss ganz schön wild gewesen sein. Der Goldsucher war wohl in Tombstone, als die Schießerei stattfand, und behauptet steif und fest, hier würde es auch zu einem Gunfight kommen. Stell dir vor, ein Revolverkampf in Skaguay … Und ich dachte, wir leben schon beinahe im 20. Jahrhundert. Ich hoffe nur, Fitz hält sich zurück.«

Clarissa warf die schmutzige Bettwäsche auf den Boden und hielt in der Arbeit inne. »Der Goldsucher will sich doch nur wichtig machen. Fitz besitzt gar keinen Revolver, und Frank Reid kommt mir eher wie ein Politiker vor. Wenn sie die Mehrheit der Bürger hinter sich bringen, haben sie doch sowieso schon gewonnen, dann bleibt Soapy Smith gar nichts anderes übrig, als zu verschwinden.« Sie griff nach einem sauberen Laken. »Schön wär’s, oder glaubst du, ich habe Lust, heute Abend schon wieder mit ihm auszugehen?«

Nachdem sie die Zimmer geputzt und die Betten bezogen hatte, gönnte sich Clarissa eine Tasse Tee in der Küche. Mrs Buchanan stand am Herd und rührte in einem Topf mit Wildsuppe und frischen Pilzen. Sie lächelte, als sie sah, wie angestrengt Clarissa gearbeitet hatte. »Ich hab nicht gesagt, dass du die ganze Arbeit allein machen sollst. Lass noch was für mich übrig, hörst du?«

»Du hast schon genug zu tun«, erwiderte Clarissa. Tatsächlich empfand sie die tägliche Hausarbeit als willkommene Ablenkung von ihren Sorgen. So hatte sie wenigstens ein paar Stunden am Tag, in denen sie sich nicht um Alex sorgte und sich das Hirn darüber zermarterte, wo er sich wohl befinden mochte. »Außerdem hab ich lange genug als Haushälterin gearbeitet … Bei reichen Leuten, die so pingelig waren, dass sie einen gefeuert hätten, wenn die Wäsche nicht sauber gefaltet im Schrank gelegen hätte, oder ein Fleck auf dem Bettzeug oder Schmutz auf einem Teller oder einer Tasse gewesen wäre.«

»Dann sei mal froh, dass ich keine pingelige Millionärin bin.«

Beide lachten und hätten beinahe die lauten Stimmen überhört, die von der Hauptstraße hereindrangen. »Frank Reid und Soapy Smith!«, erschrak Clarissa. Sie stand auf und hastete durch den Flur. Die Wirtin folgte ihr, trat neben sie auf den Gehsteig und erstarrte, als sie Frank Reid und Soapy Smith auf der Straße sah. Beide hielten Gewehre in den Händen.

»Der Goldsucher hatte recht … wie im Wilden Westen. Die beiden wollen sich duellieren!«

Auch aus den anderen Häusern und Zelten waren Neugierige getreten. Von den Gehsteigen und aus den Seitenstraßen strömten Goldsucher und sogar leichte Mädchen herbei, zögernd nur, weil sie spürten, dass eine ernsthafte Schießerei in der Luft lag. Vom Fluss trieben Nebelschwaden über die Stadt und hatten zahlreiche Ladenbesitzer veranlasst, schon jetzt ihre Lampen anzuzünden. Das vielstimmige Konzert der Huskys, die hinter den Häusern angebunden waren, verstummte so plötzlich, als hätten sie die Spannung gespürt, die über der breiten Hauptstraße an der Juneau-Werft im Hafen lag.

Soapy Smith war aus seinem Saloon, dem Jeff Smith’s Parlor, gekommen und lief zielstrebig auf die Lagerhalle im Hafen zu. Er war mit einem Winchester-Gewehr bewaffnet und wirkte lange nicht so arrogant und siegessicher wie sonst. Sein Lächeln war ihm vergangen. Neben ihm liefen die bärtigen Männer, die Clarissa vor dem Hotel gesehen hatte, blieben aber zurück, als sie sahen, mit wie vielen Männern Frank Reid vor der Lagerhalle wartete.

Clarissa entdeckte Fitz unter den Männern und trat einen Schritt nach vorn, doch Mrs Buchanan hinderte sie daran weiterzulaufen. »Bleib hier, Clarissa!«

»Aber Fitz ist dabei … Wir müssen die Schießerei unbedingt verhindern!«

»Zu spät, Clarissa! Die ist schon lange überfällig.«

»Aber es wird Tote geben …«

»Solange Soapy Smith hier schalten und walten kann, wie er will, gibt es noch viel mehr Tote. Es läuft schon lange auf einen Kampf hinaus. Männer sind so, das müsstest du doch wissen. Sie brauchen Kriege und müssen sich alle paar Jahre mal gegenseitig die Köpfe einschlagen. Anders geht es nicht.«

»Warum nur, Buchanan? Warum?«

»Sie sind einfach so.«

Soapy Smith hatte inzwischen das Ende der langen Hauptstraße erreicht und blieb wenige Schritte vor Frank Reid stehen. Auch der Mann, der eigentlich wie ein Buchhalter und mit seinem altmodischen Derby-Hut nicht gerade wie ein Kämpfer aussah, hielt ein Gewehr in den Händen. Ungefähr fünfzig seiner Anhänger standen in gebührender Entfernung hinter ihm, die meisten unbewaffnet, und wichen langsam zurück, als sie sahen, was sich anbahnte.

»Frank Reid!«, sagte Soapy Smith so laut, dass es alle hören konnten. »Ich wusste, dass du mir eines Tages Ärger machen würdest. Ich hab gehört, du hast dich mit deinem Komitee in diesem Lagerhaus verkrochen und verbreitest einen Haufen Lügen. Ich wäre ein Verbrecher und hätte ahnungslose Goldsucher betrogen oder sogar umgebracht. Ich würde den Gästen in meinen Hotels und Saloons und in den Läden unverschämte Preise abverlangen. Ich wäre ein gemeiner Ausbeuter, sollst du gesagt haben, Reid. Stimmt das?«

»Ja, das stimmt«, antwortete Frank Reid. Er war keinen Schritt zurückgewichen, als Soapy Smith vor ihm aufgetaucht war, und stand unverrückbar wie ein Fels vor dem Verbrecherkönig. Sein Gewehr hielt er so lässig, als hätte er nicht die geringste Angst vor ihm. In diesem Augenblick kam er Clarissa wie der tapferste Mann der Welt vor, noch unerschrockener als Alex, vielleicht auch deshalb, weil man es von dem Mann mit dem komischen Hut nicht erwartete. »Jeder in dieser Stadt weiß, dass du ein Betrüger bist und zumindest deine Hände im Spiel hast, wenn ein Mord geschieht. Oder willst du das Gegenteil behaupten? Wir, die Männer des Committee of 101, haben beschlossen, dich festzunehmen und einem neutralen Richter vorzuführen.«

»Einem neutralen Richter?« Soapy Smith lachte. »Ihr wollt mich lynchen oder auf der Flucht erschießen, das wollt ihr doch, nicht wahr?«

Frank Reid ließ sich nicht einschüchtern. »Dein Weg ist hier zu Ende, Soapy Smith. Du hast lange genug dein Unwesen getrieben, und nicht einmal deine Wachhunde können dir jetzt noch beistehen. Das Spiel ist aus! Jefferson Randolph Smith, ich verhafte dich hiermit wegen mehrfachen Diebstahls und Betrugs, der Anstiftung zum Mord und mehrerer anderer Vergehen, unter anderem der Irreführung durch eine gar nicht vorhandene Telegrafenleitung.«

Soapy Smith hatte genug gehört. So schnell, dass Clarissa es gar nicht sah und nicht einmal die Zeit fand, einen Schrei auszustoßen, riss er sein Gewehr hoch und schoss. Nicht minder schnell erwiderte Frank Reid das Feuer. In dem aufsteigenden Pulverrauch sah man beide Männer zu Boden stürzen.

Erst jetzt entlud sich das Entsetzen der Schaulustigen in lauten Schreien. Einige der leichten Mädchen begannen zu schluchzen. Ein Hund löste sich aus der Menge, rannte über die Straße und schnüffelte an Soapy Smith. Gleich darauf rannte er winselnd davon. Die bärtigen Leibwächter des Verbrecherkönigs verschwanden rasch in einer dunklen Seitengasse. Reverend Ike und Marshal Tanner, die wichtigsten Vertrauten des Verbrechers, waren in weiser Voraussicht erst gar nicht mitgekommen und blieben in ihrer Deckung.

Einige Männer liefen auf die reglose Gestalt von Soapy Smith zu. »Soapy Smith ist tot!«, rief jemand. »Er ist tot! Die Kugel hat ihn ins Herz getroffen!«

Fitz war als Erster bei Frank Reid. Der Anführer der Vigilanten lag mit einem Bauchschuss im Schlamm und verzog vor Schmerz das Gesicht. »Ist er … er tot?«, hörte man ihn fragen. »Ich hab … hab ihn erschossen, nicht wahr?«

»Ja, du hast ihn erschossen. Er ist tot«, bestätigte Fitz.

»Es war Notwehr!«, rief jemand aus der Menge.

»Holt den Doktor!«, verlangte ein anderer.

Wie zahlreiche andere Bürger der Stadt war auch der Arzt unter den Schaulustigen gewesen und rannte bereits über die Straße. Er schob Fitz ungeduldig zur Seite und untersuchte den Verwundeten. Schon nach wenigen Sekunden erhob er sich. »Ich fürchte, ich kann nicht mehr viel machen. Bringt ihn in meine Praxis. Ich gebe ihm Laudanum, das lindert die Schmerzen.«

Einige Männer, darunter Fitz, trugen den stöhnenden Verwundeten zur Praxis. Den toten Soapy Smith streifte der Arzt nur mit einem flüchtigen Blick. »Tot«, entschied er, »wurde auch höchste Zeit! Der Leichenbestatter soll ihn ein wenig herrichten und dann in eine Kiste sperren. Ich glaube kaum, dass ihm viele Leute in dieser Stadt nachweinen. Er hat viel Leid verursacht.«

Clarissa musste sich an einem Vorbaubalken festhalten, so sehr hatte sie die Schießerei mitgenommen. Während ihrer zwei Jahre in der Wildnis hatte sie so manches gesehen, wie Wölfe den Kadaver eines jungen Elchs zerrissen hatten, wie ein aufgebrachter Grizzly aus dem Busch gebrochen war, wie ein kranker Fuchs im Schnee verendet war, aber keines dieser Erlebnisse hatte ihr so auf den Magen geschlagen wie diese blutige Schießerei. Der gewaltsame Tod eines Menschen war schlimm genug, auch wenn er gerechtfertigt war, und noch fataler war, dass wahrscheinlich auch der Schütze im Sterben lag.

Mrs Buchanan war etwas härter im Nehmen und führte sie ins Haus. »Ich schätze, ein Tee reicht heute nicht. Du brauchst heute einen starken Kaffee. Und wenn du dich von deinem Schrecken erholt hast, kannst du dich auch darüber freuen, dass du heute Abend nicht mit Soapy Smith ausgehen musst, und er dir nichts mehr antun kann. Es ist vorbei, Clarissa, wir sind endlich frei. Ich gehe jede Wette ein, dass sich auch seine Freunde davonmachen.«

So war es tatsächlich. Reverend Ike und die beiden bärtigen Männer ließen sich nicht mehr blicken, und aus den zahlreichen Bürgern, die aus Angst vor Soapy Smith zu Verrätern und Mitläufern geworden waren wie die Jungen, die neu angekommene Passagiere in sein teures Hotel gelockt hatten, oder der Besitzer des Kaufhauses und einige andere Ladenbesitzer, die einen Teil ihres Einkommens an ihn abgeführt und ihm ständig nach dem Mund geredet hatten, waren plötzlich ehrbare Bürger geworden, die schon immer dafür gewesen waren, den Verbrecherkönig für seine Taten einzusperren oder zu hängen. Nur US Deputy Marshal Tanner blieb und vermittelte den Eindruck, als hätte er nie auf der Seite der Gesetzlosen gestanden. Er machte nicht einmal den Versuch, Frank Reid wegen Mordes zu belangen: »Das war Notwehr.«

Dolly hatte die Auseinandersetzung gar nicht mitbekommen. Sie war während der Schießerei am anderen Ende des Broadways gewesen, um einige Vorräte für das Restaurant zu besorgen, und hatte erst nach ihrer Rückkehr vom Tod des Verbrecherkönigs erfahren. Sie machte keinen Hehl daraus, wie sehr sie sich über den Tod von Soapy Smith freute. Er hatte den Mord an ihrem frisch angetrauten Ehemann befohlen oder billigend in Kauf genommen und ihrer Meinung nach nichts anderes verdient. Sie litt immer noch sehr unter dem Verlust, auch wenn sie durch ihre Arbeit im Restaurant abgelenkt war und sich kaum etwas anmerken ließ. Aber Clarissa wusste, dass ihre Freundin fast jeden Tag zum Friedhof pilgerte und dort am Grab ihres Mannes betete. Noch hatte sie seinen gewaltsamen Tod nicht verwunden.

Frank Reid starb am Morgen des Tages, an dem Soapy Smith beerdigt wurde, und stand unter dem Einfluss von Laudanum, als er seinen letzten Atemzug tat. Fitz glaubte jedoch, ein Lächeln in seinen Augen zu erkennen.

Wenn jemand eine Träne an diesem Morgen vergoss, galt sie dem tapferen Anführer der Bürgerwehr, die inzwischen sichergestellt hatte, dass keine Sympathisanten des toten Soapy Smith mehr in der Stadt waren, und nicht dem Verbrecherkönig, den der Leichenbestatter in einem einfachen Holzsarg zum Friedhof fuhr und auf der Seite begrub, die Straftätern und unerwünschten Personen vorbehalten war. Weder ein Pastor noch Trauergäste begleiteten ihn, und der Grabstein, den er aufstellte, hatte Soapy Smith schon zu Lebzeiten bezahlt. Er trug seinen Namen, seinen Todestag und sein Alter: 38 Jahre.

Nach dem Tod des Verbrecherkönigs änderte sich einiges in Skaguay. Die Stadt wurde ehrlicher. Man konnte in der Stadt wieder an Land gehen, ohne befürchten zu müssen, von einem jungen Schlepper zu einem sündhaft teuren Hotel oder Ausrüster gelockt oder um sein mühsam Erspartes gebracht zu werden. Selbst US Marshal Tanner erinnerte sich an seine eigentliche Aufgabe und kümmerte sich wieder um Recht und Gesetz, wohl in der Angst, die Bürgerwehr könnte auch seine Straftaten aufdecken und ihn zur Verantwortung ziehen. Doch niemand wollte weitere schmutzige Wäsche waschen. Man war froh, den dreisten Soapy Smith endlich los zu sein und freute sich über die sinkende Verbrechensrate in einer kleinen Siedlung, die bis dahin zu den gefährlichsten Städten des gesamten Territoriums gehört hatte. Endlich konnte man wieder frei atmen und abends auf die Straße gehen, ohne Angst haben zu müssen, an der nächsten Straßenecke beraubt oder erschlagen zu werden.

Mit der Kunde von neuen Goldfunden am Eldorado Creek, einem schmalen Nebenfluss des Klondikes auf der kanadischen Seite, wuchs auch Skaguay, und immer mehr Männer und jetzt auch Frauen und Kinder strömten in die Stadt. Neue Geschäfte und Lokale eröffneten, hastig errichtete Zelte schossen aus dem Boden, und ein paar Meilen weiter nördlich am White Pass Trail entstand eine weitere Zeltstadt, in der sich zahlreiche neue Ausrüster und indianische Führer niederließen und den Goldsuchern, die über den Pass wollten, ihre Dienste anboten. Die Auflagen der kanadischen North West Mounted Police waren streng. Jeder Goldsucher, der weiter zum Klondike wollte, musste Ausrüstung und Verpflegung für ein Jahr mitnehmen. Eine Tonne Gepäck, die man nur schaffte, wenn man mehrmals den Pass erklomm. Man kam sogar auf die Idee, eine Eisenbahn über den White Pass zu bauen. Im Herbst führten bereits Schienen über den Broadway, doch es würde noch mindestens ein Jahr vergehen, bis man den ersten Zug über den Pass schicken konnte.

Für Clarissa änderte sich nichts. Sie ging ihrer täglichen Arbeit nach und stand jedes Mal, wenn ein Dampfschiff aus dem Süden in der Bucht vor Anker ging, im Hafen und hielt Ausschau nach ihrem Mann. Sie wartete vergeblich. Auf keinem der Schiffe, das vor Skaguay den Anker setzte, war er unter den Passagieren, und auch unter den wenigen wagemutigen Männern, die über den Landweg gekommen waren, entdeckte sie ihn nicht. Der Sommer, so warm und freundlich er mit seinen sonnigen Tagen war, wurde zu einer einzigen Enttäuschung für sie, und als der Herbst ins Land zog, die Bucht von dichten Nebelschwaden überzogen war, es tagelang regnete, und er noch immer nicht gekommen war, verlor sie langsam selbst den Glauben daran, dass er jemals in Skaguay auftauchen würde. Ihre Verzweiflung wuchs ins Unermessliche, als der Captain der S.S. California einen weiteren Brief von Mary Redfeather brachte, der ihr in wenigen Worten klarmachte, wie gering die Chancen, Alex jemals wieder zu sehen, tatsächlich waren.

Auch diesen Brief las sie allein in ihrem Zimmer, mehrere Male und stets in der Hoffnung, dass sich die Worte ihrer Freundin auf magische Weise ändern würden, doch sie blieben und bedeuteten ihr, dass auch Alex’ zweiter Stiefel an Land geschwemmt worden war, von Haien zerbissen, und man davon ausgehen musste, dass er im Meer ertrunken war. »Liebe Clarissa«, schrieb Mary Redfeather, »ich kann mir gut vorstellen, wie diese Worte auf dich wirken müssen, und welchen Schmerz sie in dir verursachen, aber ich kann dir leider nichts anderes sagen. Meine Söhne haben noch einmal die Wälder nach ihm abgesucht und auch bei den anderen Stämmen nach ihm gefragt, aber niemand hat ihn gesehen oder etwas von ihm gehört, und seine beiden Stiefel sind das Einzige, das wir von ihm haben. Ich weiß, wie schwer es für dich sein muss, denn auch ich habe vor nicht allzu langer Zeit einen geliebten Menschen verloren, aber das Leben meint es nicht immer gut mit uns, und es bleibt uns nichts anderes übrig, als es so zu nehmen, wie es ist. Vertraue unserem Schöpfer, auch wenn seine Entscheidungen manchmal schwer zu verstehen sind, und blicke in die Zukunft. Deine Freundin Mary.«

Clarissa wollte nicht glauben, was in dem Brief stand. Solange es keinen eindeutigen Beweis dafür gab, dass Alex tatsächlich ertrunken war, würde sie weiterhin hoffen, dass er noch am Leben war, oder zumindest die Chance bestand, er könnte auf wundersame Weise überlebt haben. Er hatte keinen Selbstmord begangen, selbst das furchtbarste Schicksal hätte ihn nicht zu einer solchen Tat bewegen können, dazu liebte er das Leben viel zu sehr. Und wenn, hätte er bestimmt nicht seine Stiefel ausgezogen.« Der Gedanke brachte sie zum Lächeln. Und wenn man ihn ohne Stiefel überrascht und bewusstlos oder verwundet ins Meer geworfen hatte, gab es immer noch die Möglichkeit, dass er auf einer einsamen Insel gestrandet war und sich dort von seinen Verletzungen erholte, bis ihn ein Fischerboot auflas. Oder er war in einem Indianerdorf gelandet, so wie sie vor mehr als zwei Jahren, und wurde dort gesund gepflegt. Nur eine vage Hoffnung, ein frommer Wunsch, den weder Mrs Buchanan noch Dolly teilten, aber nicht müde wurden, ihr Mut zuzusprechen und mit ihr beteten, der Herr möge ein Wunder geschehen lassen.

Doch Wunder waren äußerst selten im Hohen Norden, und als sich der Herbst langsam dem Ende zuneigte, und nur noch selten Schiffe in Skaguay anlegten, brauten sich bereits neue Gewitterwolken über ihr zusammen.